Wie ein Fels in der Brandung

Kernkraftwerke erhöhen das Krebsrisiko für Kinder. Das hat eine Studie bewiesen.
Doch vielen Wissenschaftlern behagt dieses Ergebnis offenbar nicht

Von Sebastian Pflugbeil

Je näher Kinder an einem Kernkraftwerk wohnen, desto höher ist ihr Risiko, an Krebs zu erkranken. Was jahrzehntelang als freie Erfindung oder unqualifizierte Übertreibung bärtiger Atomkraftgegner verhöhnt wurde, ist nun als Tatsache auf dem höchstmöglichen wissenschaftlichen Niveau in Deutschland angekommen. Dennoch tobt ein erbitterter Streit um dieses eigentlich eindeutige Ergebnis der Studie, die das Mainzer Kinderkrebsregister im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz angefertigt hat. Der Grund: Das Ergebnis schmerzt neben den Betreibern der Kernkraftwerke seltsamerweise auch einige Autoren der Studie so stark, dass sie mit wissenschaftlich unseriösen Argumenten versuchen, das gravierende Ergebnis zu relativieren. Das wiederum hängt mit der Vorgeschichte der Studie zusammen.

Es ist 15 Jahre her, seit das Mainzer Institut für Medizinische Statistik und Dokumentation (IMSD) eine umfangreiche Studie zur Erkrankungshäufigkeit von Kinderkrebs um deutsche kerntechnische Anlagen vorlegte. Die Studie untersuchte Daten von 1980 bis 1995. Ihr Ergebnis war: keine erhöhten Krebsraten bei Kindern unter 15 Jahren im Radius von 15 Kilometern um die Kernkraftwerke. »Nebenbei« stellte sich aber eine dreifach erhöhte Leukämierate bei Kleinkindern unter fünf Jahren im Fünf-Kilometer-Nahbereich kerntechnischer Anlagen heraus. Fünf Jahre später folgte eine zweite Studie des IMSD. Das Ergebnis: Kein erhöhtes Leukämierisiko für Kinder im Umfeld von Kernkraftwerken.

Der Münchner Physiker Alfred Körblein sah sich die Studie näher an. Er wollte wissen, was es mit dem Leukämierisiko auf sich hat. Erst im Methodenteil fand er die Erklärung dafür, dass die beunruhigend erhöhte Leukämierate der ersten Studie in der zweiten unauffällig wurde. Die Autoren hatten klammheimlich die Methode so verändert, dass am Ende alles im grünen Bereich war. Körblein konnte nachweisen, dass bei Anwendung der gleichen Methode wie in der ersten Studie auch die Daten der zweiten Studie ein rund dreifach erhöhtes Leukämierisiko bei Kindern unter fünf Jahren aufgewiesen hätten. Außerdem fand Körblein schon damals eine signifikante Abhängigkeit des Krebsrisikos von der Entfernung zum Kernkraftwerk.

Im Frühjahr 1998 bat Körblein den Leiter des IMSD, Professor Jörg Michaelis, um Überlassung der standortspezifischen Daten für Kleinkinder. Die Auswertung der Daten für Kleinkinder unter fünf Jahren ergab ein deutlich signifikanteres Ergebnis als für Kinder unter 15 Jahren. Die Krebsrate war im Nahbereich von Kernkraftwerken signifikant um 54 Prozent erhöht, die Leukämierate gar um 76 Prozent. Diese Ergebnisse wurden zunächst im Strahlentelex und im August 1999 in der amerikanischen Fachzeitschrift Medicine and Global Survival veröffentlicht.

Auf entsprechende Weise überprüfte Körblein die Kinderkrebsraten um bayrische Kernkraftwerke und fand auch dort deutlich erhöhte Krebsraten bei Kindern. Körblein wurde von den eigentlich zuständigen Behörden und hochrangigen Epidemiologen verspottet – als texanischer Scharfschütze, »der erst ein Loch in die Wand schießt und dann die Zielscheibe herummalt«.

Erst eine Unterschriftensammlung der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW erreichte schließlich, dass das Bundesamt für Strahlenschutz mit dem neuen Präsidenten Wolfram König entschied, in einer neuen Studie den auffälligen Befunden gezielt nachzugehen. Nach längeren Diskussionen einigte sich eine Kommission auf eine Fall-Kontroll-Studie: Es sollte geprüft werden, ob krebskranke Kinder im Mittel näher an Kernkraftwerken wohnen als Kinder ohne Krebs. Den Zuschlag für die Studie erhielt das Mainzer Kinderkrebsregister am IMSD, pikanterweise ebenjenes Forschungsnetzwerk, das zweimal zuvor zu einer sehr ähnlichen Fragestellung fast nichts gefunden hatte. Es wurde eine Expertenkommission eingerichtet, welche die Studie kritisch begleiten sollte – ihr gehörte auch Körblein an.

Nach sechsjähriger Arbeit wurde die international größte derartige Studie jetzt vorgelegt. Sie untersucht die Umgebung von 16 Kernkraft-Standorten in Deutschland über einen Zeitraum von 23 Jahren mit dem schärfsten epidemiologischen Instrument, einer Fall-Kontroll-Studie. Erstmals werden nicht nähere und fernere Regionen miteinander verglichen. Es wird der jeweilige genaue Abstand zwischen Wohnort und nächstgelegenem Kernkraftwerk der krebskranken und der gesunden Kinder bis zum Alter von fünf Jahren analysiert. Das Ergebnis steht wegen der ausgefeilten Methode sowie des Umfangs und der Genauigkeit der Daten nun wie ein Fels in der Brandung.

Erstmals erkennen nun Atomkraftkritiker, Atomkraftbefürworter und die Neutralen gemeinsam dieses Ergebnis an. Überraschend ist jedoch, dass die Autoren der Studie selbst die größten Probleme mit ihrer hervorragenden Studie zu haben scheinen. So schreiben sie in der Zusammenfassung, also in dem Teil der Studie, den Politiker und Journalisten bestenfalls lesen, einen ebenso merkwürdigen wie langen Satz: »Obwohl frühere Ergebnisse mit der aktuellen Studie reproduziert werden konnten, kann aufgrund des aktuellen strahlenbiologischen und -epidemiologischen Wissens die von deutschen Kernkraftwerken im Normalbetrieb emittierte ionisierende Strahlung grundsätzlich nicht als Ursache interpretiert werden.«

Also: Mehr Kinderkrebs im Umfeld von Kernkraftwerken, ohne dass diese Krankheit etwas mit der Strahlung der Kraftwerke zu tun hätte. Das klingt schon deshalb seltsam, weil sich die Studie gar nicht mit ionisierender Strahlung befasst hat. Das begleitende Expertengremium ist »einhellig der Überzeugung«, dass »dieser Zusammenhang aufgrund des besonders hohen Strahlenrisikos für Kleinkinder sowie der unzureichenden Daten zu Emissionen von Leistungsreaktoren keineswegs ausgeschlossen werden kann«.

Doch damit nicht genug: Wie viele Kinder sind denn nun infolge ihrer Kernkraft-nahen Wohnung zusätzlich an Krebs oder Leukämie erkrankt? In der Zusammenfassung geben die Autoren an, dass im Fünf-Kilometer-Radius um ein Kernkraftwerk innerhalb von 23 Jahren 29 zusätzliche Krebserkrankungen ermittelt wurden. Das erscheint zumindest statistisch nicht weiter schlimm oder anders gesagt: Das soll nicht schlimm erscheinen. Die Autoren unterschlagen dabei, dass viel mehr Kinder außerhalb der fünf Kilometer wegen der Nähe zum Kernkraftwerk erkranken. Die begleitenden Experten haben diesen Trick scharf kritisiert. Sie gehen im Untersuchungszeitraum von insgesamt 121 bis 275 zusätzlichen Krebsfällen bei Kleinkindern im Radius von 50 Kilometern um Atomanlagen aus.

Der Lack ist ab – Atomsicherheit und Strahlenschutz schützen die Kinder in der Umgebung deutscher KKWs nicht vor Gesundheitsschäden. Das ist nicht Ideologie, nicht Theorie, sondern Tatsache. n

Sebastian Pflugbeil

ist Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz und Mitglied des Expertengremiums der Studie.

Deren Votum und die Studie stehen unter: www.bfs.de

 

Die Arbeiten von Alfred Körblein findet man bei www.alfred-koerblein.de

 

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Publik-Forum

Quelle: Publik-Forum, Nr. 24 vom 21. Dez. 2007

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